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Die künstlerische Arbeit von Regina Sell bewegt sich im Spektrum von zeichnerischer Malerei oder malerischer Zeichnung. Ausgebildet an der Akademie entwickelte sie über einen kontinuierlichen Zeitraum ein eigenständiges Werk, bei dem die zeichnerische Geste und die malerische Disposition immer verknüpft bleiben. Der zeichnerische Duktus ist in ihren Arbeiten stets mit der Materialität und Stofflichkeit der malerischen Mittel verknüpft. Auch dann, wenn die Malmittel auf den Grafitstaub der Stifte reduziert erscheinen.

Dabei begann Regina Sell mit Malereien, die eine dichte Stofflichkeit besaßen. Hier entwickelte sie mit reinen Pigmenten Bildgründe, in die die Zeichnung gleichsam eingelagert wurde wie Schriftzeichen der zeitlichen Veränderung und des Prozesses. Die Verbindung von Malerei und Zeichnung existierte in diesen frühen Arbeiten wie in einer Form der materiellen Visualisierung. 

In der Entwicklung der Arbeiten gibt es Gemälde, die sehr stark auf diese malerische Besonderheit aufgebaut sind und in denen selbst nur wenige Andeutungen zeichnerischer und grafischer Elemente eingebunden sind, die den Duktus der Malerei unterstützen. Im Laufe der Kombination von Malerei und grafischer Gestaltung, wie in den jüngsten Arbeiten, in denen die Bleistiftsetzung gleichsam die Materialität der Malerei darstellt, verschieben sich diese Schwerpunkte, zwischen denen die Künstlerin in ihren Arbeiten changiert. 

Die Körperlichkeit der frühen Arbeiten ist dabei fast wie in einem Objekt fassbar, dessen Haptik der Oberfläche an gefundene Strukturen in Landschaft, Natur oder Architektur erinnern, wenngleich sie durch die geschickte Vermittlung von Hell und Dunkel ein Licht im Zentrum der Bilder vorzugeben scheinen. Die Wahrnehmung der Bildoberfläche, die offen und geschlossen im gleichen Maße wirkt, macht den besonderen Reiz der Gemälde aus und lässt die vielen Schichtungen, durch die diese Bilder entstanden sind, fast körperlich spürbar werden. Hierin begegnet der Betrachter dem ganz wichtigen künstlerischen Ansatz von Regina Sell, die ihre Bildsetzungen immer auch mit den Räumen verbindet, in denen sie präsentiert sind.

Die Farbigkeit, die Regina Sell für ihre Arbeiten wählt, ist eine gleichsam naturhafte, eher unbunte und aus Schwarz, Braun, Erdtönen und leuchtenden Ocker- und Gelbvarianten gebildet. Damit schafft sie gleichsam „Naturräume“, deren Konkretion unmittelbar aus der Materialität und Malerei selbst entsteht. 

Deutlich wird hierbei, dass die Qualität der gestalterischen Arbeiten von Regina Sell auch eine Qualität der Behandlung von Techniken und Materialien beinhaltet. Die enge Verknüpfung von Untergrund und Farbe ist wie in alten Wandmalereien ganz unmittelbar und durch Schichtung und Verbindung aufgetragen. Die Bilder besitzen dadurch eine hohe haptische Qualität, da die Stofflichkeit der Farben durch ihren rohen und trockenen Charakter gleichsam wie im Prozess einer Entstehung begriffen erscheinen. Keine schützende Haut ist über die Bilder gelegt, wie man sie oftmals bei Ölmalereien erlebt, sondern die Bildoberfläche ist den „Zugriffen“ durch die Betrachter geöffnet und erweist sich eher als taktil, offen und verletzlich. 

Die Bedeutung der Zeichnung gewann im Laufe der Jahre bei Regina Sell immer weiter an Präsenz, ohne sich der Materialität überzuordnen. Ganz im Gegenteil entwickelte sich die Zeichnung als eine eigene materielle Struktur, die die Leinwände nun nicht nur mit Zeichen und Formen gestaltet – entstanden aus der Geste und der physischen Präsenz der Künstlerin -, sondern die mit Skripturen und Anagramme eine zeichnerische Ausdrucksform verdichtet und reduziert, bei der die Zeichnung selbst zu einer malerischen Schattenhaftigkeit auf den Leinwänden mutiert. Das Pigment und der Duktus, mit dem es auf die Fläche des Gemalten aufgetragen ist, verweist auf sich selbst und lässt die Künstlerin als eine Malende in den Hintergrund treten. Erst das Zeichen, die Setzung, verrät den Duktus der künstlerischen Gestaltung.

In dieser offenen Struktur, die Regina Sell ihren Arbeiten auferlegt, erreicht die Künstlerin, dass die Gemälde einem stetigen Wandel in der Betrachtung und Wahrnehmung unterliegen, der auf Erweiterung und Neuentdeckung zielt – nicht zuletzt in den Werken, in der die Malerei sich gleichsam nur noch als Lichtraum auf der Malfläche entwickelt und den Betrachter in einer Entmaterialisierung nur noch Licht und Schatten wahrnehmen lässt.

Die letzten nur mit Bleistift gezeichneten Leinwandbilder entsprechen diesem Duktus, wenngleich hier die Materialität gleichsam umgekehrt erscheint, nämlich als „Nichtmaterialität“ im Sinne eines Schattens, einer Wolke oder einfach nur einer Veränderung im Licht der Oberfläche. Die Materialität bei diesen Arbeiten ist auf ein Minimum reduziert, denn nur in der absoluten Nahsicht kann der Betrachter die Realisation dieser Bildstrukturen durch Grafitstift überhaupt nachvollziehen. 

In diesen Arbeiten von Regina Sell betreten wir den Mikrokosmos der Bildlichkeit. Von Weitem nehmen wir nahezu monochrome weiße Leinwandbilder wahr und  müssen erst nah an das Bild herangehen, so nah, wie die Künstlerin der Bildoberfläche im Prozess der Arbeit war, um zu erkennen, dass es sich tatsächlich um sehr viele feine Grafitlinien handelt, die zum Teil fast geometrisch mathematisch gesetzt sind und in einem fraktalen System die Oberfläche bedecken. Anders als in den früheren Arbeiten wird der informelle Duktus gegen einen fast strukturellen Duktus ausgetauscht. Dennoch erscheinen die Liniaturen, die sehr ebenmäßig sind, wiederum schon aus etwas größerer Distanz nicht mehr geometrisch sondern wolkig wie ein Dunstschleier, der sich über die Leinwandoberfläche gelegt hat. Diese ständige Metamorphose der Bildlichkeit, der der Betrachter ausgesetzt ist, wenn er im Raum zu den Bildern unterschiedliche Distanzen einnimmt, sich ihnen nähert, sich von ihnen entfernt, sie aus dem Blickwinkel ertastet oder frontal auf sie zu blickt, machen die besondere Qualität und besonderen Charakter dieser neuen Arbeiten aus. 

In dieser Werkreihe sind auch sehr kleinformatigen Arbeiten entstanden, die Regina Sell in Serien an die Wand setzt. Dabei entwickelt sich in der Betrachtung eine intensive Interaktion mit der Wandfläche. Dort, wo die weißen Bildflächen vor eine weiße Wand gesetzt sind, scheinen sie die Wandoberfläche mit ihren verschiedenen Grau- und Weißwerten aufzugreifen und quasi in die dritte Dimension des Bildobjektes zu übertragen. Hier erkennen wir auch eine Lineatur, die Regina Sell auf die Bildträger setzt und die sich im Mittelgrund der Bilder wie ein Horizont über die gesamte Bildserie fortsetzen lassen. Dennoch ist keine Arbeit wie die andere, da kein Strich gleich gesetzt ist, sondern immer wieder anders auf der Bildoberfläche erscheint. So ähnlich die Bilder bei großer Distanz wirken, bis hin zur Identität des einzelnen Bildes zu einem anderen, so unterschiedlich wirken sie in der Nahsicht. Der Mikrokosmos dieser Bilder ist also absolut gegenläufig zum großen Makrobild, das Regina Sell dann realisiert, wenn sie mehrere dieser Arbeiten in einen Raum zusammenbringt und so die Unterschiedlichkeiten der Materialitäten immer deutlicher werden.

Betrachtet man die Arbeiten, die Regina Sell vor diesen sehr reduzierten Strukturen auf Weiß entwickelt hat, so erkennen wir auch hier, dass die Systematisierung der Struktur immer deutlicher wird. Die Linie als gesetzte und nicht zufällige Form nimmt immer stärker Kontur an, genauso wie die Bildflächen, die sie dunkel gestaltet und hier die Strukturen aus dem Weißen, nicht übermalten Bildgrund heraus entwickelt. Auch diese Werke wirken auf große Distanz anders als in der Nahsicht. 

Der Betrachter ist in jedem Fall mit seiner Wahrnehmung, seiner Aufmerksamkeit und mit seiner Verortung im Raum zum Bild, zur Präsentation, Bestandteil der künstlerischen Arbeit. Er wirkt mit an der Visualisierung der Gestaltungen und er wird auch in der Betrachtung zur Teilhabe aufgefordert, denn der Prozess der Bilder ist unabschließbar.

Gabriele Uelsberg